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NZZ – Sprung ins postfaktische Zeitalter?

Wie eine Zeitung Inhalte überwindet

Am letzten Wochenende hat die SP versucht, die “Überwindung des Kapitalismus” im Parteiprogramm so zu verdeutlichen, dass daraus direkt politische Projekte folgen können. Damit macht die SP klar, dass es sich beim geforderten Systemwechsel nicht um eine leere Worthülse, sondern eine ernstzunehmende Alternative handelt. Entsprechend haben die Medien, insbesondere die NZZ, reagiert. In einem Kommentar äussert sich Michael Schönenberger. Er reiht sich in die Reihe der Kommentator_innen ein, die viel schreiben, ganz offensichtlich aber keine Positionspapiere von Parteien lesen

Im Positionspapier fordert die SP Genossenschaften, mehr Unterstüzung für sozial und ökologisch wertvolle Unternehmen und Mitbestimmung in Betrieben, also eine Demokratisierung der Wirtschaft. In der NZZ lesen wir von Kuba, Propagandageschwätz und Staatsquoten. Um einen Dialog zwischen Wolfgang Schäuble und Yanis Varoufakis weiterzuziehen: Wir sind uns nicht einmal einig, wo wir uneinig sein wollen. Da der Kommentar die SP im Titel trägt wäre es aber Aufgabe des Autors, sich mit dieser Partei auseinanderzusetzen. Stattdessen werden Tatsachen verdreht, dass sich die Balken biegen.

Besonders entscheidend sind die Behauptungen bei der Frage des Privateigentums. Die JUSO formulierte dazu einen erfolglosen Antrag mit folgender Textpassage:

Soll eine demokratische, ökologische und solidarische Wirtschaft zum Durchbruch gelangen, müssen wir damit beginnen, differenzierter über das Verhältnis von (Privat-)Eigentum und Gemeinwohl nachzudenken. Leitschnur dieser Neukonzeption muss das demokratische Grundprinzip sein, wonach Betroffene einbezogen werden und mitentscheiden können. Eigentum demokratisch zu denken bedeutet, das Privateigentum an den Produktionsmitteln zugunsten einer demokratischen und gemeinwohlorientierten Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zu transformieren.

Der Autor sieht darin einen “Antrag der Jungsozialisten zur Abschaffung des Privateigentums”, obwohl im Antrag glasklar steht:

Für die SP ist klar, dass individuelles Eigentum bspw. an Konsumgütern für den Alltagsgebrauch eine wesentliche Voraussetzung eines selbstbestimmten Lebens darstellt. Die Garantie individueller Eigentumsrechte ist ein wichtiges Fundament für unsere Freiheit.

Ohne Übertreibung kann diese Umdeutung als Manipulationsversuch der Leser_innen gewertet werden. Die absolute Mehrheit der Bevölkerung besitzt heute wenig bis keine Aktien an Unternehmen. Eine Demokratisierung der Wirtschaft, also eine Abschaffung des Eigentums an den Produktionsmitteln, würde die Mitbestimmungsmöglichkeiten der Mehrheit der Bevölkerung massiv ausbauen. An diesen Zusammenhang traut sich der Autor aber nicht ran. Vielmehr versucht er zwanghaft den Eindruck zu vermitteln, die SP wolle weniger Demokratie und den Menschen dazu sogar noch die Zahnbürste, das Velo oder den Rasenmäher wegnehmen. Willkommen im postfaktischen Zeitalter, liebe NZZ!

Weiter behauptet Schönenberger, SP-Nationalrat Pardini demaskiere sich “als Kulturpessimist, der die Digitalisierung als Bedrohung versteht, statt ihr Potenzial zu erkennen.“ Vergessen geht dabei auch schnell einmal, dass im kritisierten Positionspapier “Wirtschaftsdemokratie” der folgende Absatz zu finden ist:

Digitale Commons gegen Regime von Informationsmonopolen: Im Kontext der Digitalisierung hat sich der Zugang zu kulturellen Werken und Wissensgütern radikal verändert. So viele Menschen wie nie zuvor haben die Möglichkeit, zur intellektuellen Wertschöpfung beizutragen.

Während der Autor von Bedrohungen schwadroniert, redet die SP von Möglichkeiten. Doch ein erwähnenswerter Unterschied, nicht? Die Antwort auf die Frage des Autors, wozu Digitalisierung unter “sozialistischen” Bedingungen führt, wäre damit gegeben: Wikipedia zum Beispiel.

Indem der Autor vorgibt, die SP würde keine Lösungsvorschläge für die Probleme der heutigen Zeit liefern, entzieht er sich elegant der Auseinandersetzung mit unseren politischen Positionen. Hat da jemand Angst, dass das “politisch unmögliche” zum “politisch unausweichlichen” werden könnte, sobald die Diskussion sich wirklich um Inhalte zu drehen beginnt? Viele Menschen würden der NZZ wohl zutrauen, sich vertieft mit den Forderungen im Wirtschaftsdemokratie-Papier auseinanderzusetzen und so einen Beitrag zur Diskussion zu liefern. Ich persönlich wäre sehr erfreut über eine kritische Bilanz zum Genossenschaftswesen in der Schweiz oder an einem Artikel zu den Arbeitnehmer_innenfonds in Schweden, die eine Demokratisierung der Wirtschaft zum Ziel hatten. Als (Wirtschafts-)Demokrat, Sozialist underklärter politischer Gegner der Konservativen und Liberalen wäre ich bereit, mich auf deren Argumente einzulassen, aber nicht auf solch unfundierte Behauptungen.