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Perspektiven linker Wirtschaftspolitik in Frankreich: Wo sind die Gräben?

In Frankreich findet im April die erste Runde der Präsidentschaftswahlen statt. Neben dem sozialdemokratischen Kandidaten Benoit Hâmon der “parti socialiste” kandidieren auch Jean Luc Mélenchon für die französische Linke und der ehemalige Investmentbanker und Wirtschaftsminister unter Hollande, Emmanuel Macron. Unzählige Linke haben sich in den letzten Jahren mit der andauernden wirtschaftlichen Stagnation und der autoritären und zerstörerischen Austeritätspolitik in der Eurozone auseinandergesetzt. Nachdem die griechische Regierung de facto keine Souveränität über die eigene Wirtschaftspolitik mehr besitzt und in Portugal durch den Ausstieg aus genau dieser Austerität erstmals wieder akzeptable Wachstumsraten auftreten stellt sich die Frage, mit welchen wirtschaftspolitischen Rezepten die drei Kandidaten aus dem Spektrum von Mitte bis links das zweitwichtigste Euroland Frankreich wieder auf die Beine bringen wollen. Sie haben in den letzten Wochen ihre Wirtschaftsprogramme veröffentlicht. Ich werde diese unter verschiedenen Gesichtspunkten vergleichen.

Zumindest am linken Rande des politischen Spektrums diskutiert die “Grande Nation” noch vertieft über Wirtschaftspolitik.. Obwohl François Hollande so ziemlich das Gegenteil seines Programms von 2012 umgesetzt hat lohnt es sich, die Ideen der drei Mitte-links-Kandidaten etwas genauer zu betrachten. Dadurch wird sichtbar, wie gross der Spielraum für linke Wirtschaftspolitik wirklich wäre. Gleichzeitig besteht bei den aktuellen Wahlen auch weniger die Gefahr, durch einen linken Präsidenten enttäuscht zu werden, wie mir das selber während Hollandes Amtszeit passiert ist.

Denn weder der Linke Mélenchon noch Sozialdemokrat Hâmon konnte sich entschliessen, für eine gemeinsame Kandidatur zurückzuziehen. Damit wird Mitte-links wohl nur mit dem Sozialliberalen Macron in den Stichwahlen vertreten sein. Macron ist dabei sowas wie der französische Justin Trudeau: Feminist, Internationalist, perfekter Schwiegersohn. Gleichzeitig ist die Politik Macrons, wie auch diejenige Trudeaus, in vielen Bereichen kaum links und gegen die Interessen der Schwächsten.

Die Programme – eine Übersicht

In der untenstehenden Tabelle werden die wichtigsten Eckpunkte der Wirtschaftsprogramme gegenübergestellt:

GebietMélenchonHâmonMacron
Investitionsprogramm (je auf 5 Jahre)100-141 Mrd.¹Vorschlag: 1’000 Mrd. auf europäischer Ebene, national keine fixe Zahl genannt50 Mrd., “hunderte Milliarden” Investitionsbudget auf EU-Ebene
Sparmassnahmen60 Mrd. (von 56 auf 53% Staatsquote), dafür 120’000 Staatsbedienstete entlassen
ArbeitsmarktLoi el Khomri abschaffen, befristete Verträge beschränkenLoi el Khomri abschaffen, Partner in “uberisierten” Unternehmen zu Angestellten machenVereinfachung der Arbeitslosen- versicherung und Finanzierung über Steuern statt Lohnabgaben
Arbeitszeit32h, zusätzliche Ferienwoche(n)35h und Anreize zur Verkürzung35h-Woche aufweichen gegen oben
Rentenalter606262, flexibilisieren gegen oben
Mindestlohn (SMIC)16%+10%, dazu bedingungsloses Grundeinkommen von 750 Euro7-9% erhöhen
SteuernNeue Progressionsstufen, ab 20-fachem Medianeinkommen 100% GrenzsteuersatzRobotersteuer, neue ProgressionsstufenUnternehmen: von 33.3 auf 25%
WirtschaftsdemokratieWeitrechende Massnahmen jeglicher Art²Vetorecht der Angestellten bei wichtigen strategischen Entscheiden

¹ 100 Mrd., zusätzlich bereits vorhandene Mittel anzapfen und für ökologischen Umbau verwenden.
² Massnahmen werden in einem späteren Text im Detail analysiert.

Investitionspolitik oder Austerität?

Neben der Arbeitsmarktliberalisierung ist die Fiskalpolitik die grosse wirtschaftspolitische Auseinandersetzung in der EU. Während zwar in den Maastricht-Verträgen willkürliche Grenzen für Defizite (3% des BIP) und Staatsverschuldung (60% des BIP) festgelegt sind, verstösst Frankreich wie die meisten EU-Länder seit Jahren dagegen. Denn es ist der Versuch, diese Maastricht-Kriterien einzuhalten, der in vielen Ländern Armut, soziale Spannungen und politische Instabilität produziert hat und weiter produziert. Aufgrund ihrer Rhetorik erwecken zwar alle drei Kandidaten den Eindruck, sie hätten dieses Problem erkannt. Trotzdem hat nur Jean-Luc Mélenchon einen konkreten Vorschlag, wie Frankreich selbständig und entschlossen gegen die Austeritätspolitik vorgehen kann. So verspricht er Investitionen von insgesamt über 100 Milliarden Euro und stellt gleichzeitig klar, dass er sich im Interesse der wirtschaftlichen Entwicklung Frankreichs nicht an die Defizitgrenze von 3% des Bruttoinlandsprodukts gebunden fühlt. Sogar eine Neuverhandlung eines Teils der Staatsschulden strebt Mélenchon an. Gestärkt wird er in seinen Vorhaben ungewollt durch den internationalen Währungsfonds, der das Scheitern der Austeritätspolitik zugeben musste, da die Fiskalmultiplikatoren unterschätzt wurden. Diese Multiplikatoren bestimmen, wie negativ sich der Versuch, Staatsdefizite abzubauen, auf die Wirtschaftsentwicklung auswirkt. Da die Multiplikatoren substanziell höher waren als angenommen, ist die Austeritätspolitik auf ganzer Ebene gescheitert.

Benoit Hâmon seinerseits pocht auf ein Investitionsprogramm von einer Billion Euro auf europäischer Ebene und Emmanuel Macron möchte zwar selbst 50 Milliarden Euro in die Hand nehmen, kompensiert diesen bescheidenen Stimulus aber gleich wieder mit Kürzungen in der Verwaltung und anderen Sparmassnahmen in der Höhe von 60 Milliarden Euro. Gleichzeitig fordert auch Macron ein europäisches Investitionsbudget von hunderten Milliarden Franken und kritisiert die Austeritätspolitik als ineffizient.

Unter dem Strich scheint sich bei den drei Kandidaten die Idee durchgesetzt zu haben, dass Europa von der Austeritätspolitik wegkommen muss. Dass die neoliberale NZZ auch Emmanuel Macron für sein “im letzten Jahrhundert” und bereits “von John Maynard Keynes” erfundenes Programm kritisiert zeigt, dass er zumindest nahe am aktuellen sozialdemokratischen Mainstream politisiert; in Bezug auf die Austeritätspolitik steht er wohl sogar links der meisten deutschen Sozialdemokrat_innen. Das dürfte aber für die meisten Wähler_innen in Frankreich und in Europa kein Trost sein. Auch im zehnten Jahr nach Ausbruch der europäischen Wirtschaftskrise warten die Normal- und Wenigverdienenden Europas auf den Silberstreifen am Horizont – ohne entschlossenes Vorgehen eines zukünftigen französischen Präsidenten und den Verstoss gegen Maastricht wohl weiterhin vergebens. Um die Arbeitslosigkeit von weiterhin über 10% zurück zum Vollbeschäftigungsniveau zu bringen, müssten die Maastricht-Regeln in den Mülleimer der Geschichte geworfen werden. Für einen solchen Schritt ist Macron jedoch zu unkritischer (Schein-)Europäer und zu wenig links.

Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik

In der Arbeitsmarktpolitik geht insbesondere Macron neue Wege. So soll einerseits die Arbeitslosenversicherung nicht mehr über Lohnabgaben, sondern neu über die Steuern finanziert werden. Schon rein aus Gründen der Rückverteilung von oben nach unten ist dies zu begrüssen, sind Steuern doch im Vergleich zu Sozialabgaben progressiv ausgestaltet und treffen nicht nur die arbeitende Bevölkerung. Zusätzlich möchte Macron die Arbeitslosenversicherung auch für alle Menschen öffnen, so dass auch nicht abhängig Beschäftigte von deren Leistungen profitieren können.

Beim “Loi el Khomri”, der umstrittenen Arbeitsmarktliberalisierung von François Hollande, verläuft die Trennlinie wiederum klar zwischen Macron und seinen linken Kontrahenten. Sowohl Mélenchon als auch Hâmon fordern die Rücknahme dieses Gesetzes. Insbesondere der Artikel 2 im Arbeitsmarktgesetz war bei Gewerkschaften und linken Parteien sehr umstritten. Dieser schreibt fest, dass verhandelte Gesamtarbeitsverträge innerhalb eines Unternehmens denjenigen in der Branche übergeordnet sind. Damit werden Arbeitnehmer_innen dazu motiviert, im Sinne “ihres” Unternehmens tiefere Löhne und längere Arbeitszeiten zu akzeptieren. Dabei handelt es sich auch aus wettbewerbspolitischer Sicht um einen Sündenfall: Statt sich durch Innovationen in Prozessen und Produkten von der Konkurrenz abzusetzen werden Unternehmen dazu motiviert, sich Wettbewerbsvorteile durch Lohndrückerei zu verschaffen. Ausserdem motiviert ein solches Gesetz Arbeitnehmer_innen dazu, sich gegenseitig zu unterbieten und damit Druck auf das allgemeine Lohnniveau auszuüben.

In Bezug auf die soziale Sicherheit unterscheiden sich hier für einmal auch die Positionen von Hâmon und Mélenchon relativ stark. Hâmon fordert ein bedingungsloses Grundeinkommen (BGE), welches schrittweise von den Jungen auf die ganze Bevölkerung ausgedehnt werden soll. Mélenchon schwebt hingegen eher vor, dass der Staat als “Arbeitgeber letzter Zuflucht” (employer of last resort) allen Arbeitslosen eine Beschäftigung anbietet, die ihren Fähigkeiten und ihrer Qualifikation entspricht.

Während auch Hâmon und Macron scharfe Massnahmen zur Gewährleistung zur Lohngleichheit zwischen den Geschlechtern ankünden, geht Mélenchon in der Sozialpolitik grundsätzlich weiter. Er möchte Unternehmen verpflichten, einen Massnahmenplan zur Vermeidung von Lohndiskriminierung vorzulegen und umzusetzen. Ausserdem verspricht er gleichen Elternurlaub für die Eltern und einen “Plan personalisé contre la pauvreté (PPP)”, um Menschen in ihren existenziellen Bedüfrnissen wie Wohnen, Elektrizität, Gas und Wasser gezielt unterstützen zu können. Dazu verspricht er den Bau von 200’000 öffentlichen Wohnungen während seiner fünfjährigen Amtszeit.

Steuerpolitik

Erfreulich ist erstmal, dass sich alle drei Kandidaten klar gegen die Steuervermeidung grosser Unternehmen stellen. Während die beiden Linken Hâmon und Mélenchon sich jedoch auch für eine verstärkte Besteuerung von Kapital einsetzen, möchte Macron den internationalen Steuerwettbewerb weiter anheizen. So sollen Unternehmensgewinnsteuern von 33.3% auf 25% gesenkt werden. Damit werden erneut Steuergeschenke an grosse Unternehmen gemacht, obwohl höhere Gewinne nachweislich keine zusätzlichen Investitionen hervorrufen.

Bei der Besteuerung von Privatpersonen haben Hâmon und Mélenchon wiederum sehr nahe Positionen. So möchten beide zusätzliche Progressionsstufen einführen, um damit stärkere Rückverteilung von oben nach unten zu erreichen. Macron setzt hierzu den Hebel bei der Wohnsteuer an, die 80% der Bevölkerung nicht mehr bezahlen soll. Gemäss Macron ist diese die unfairste Steuer überhaupt, da viele ärmere Menschen mehr bezahlen als diejenigen, die in reichen Haushalten leben.

Eine weitere verpasste Chance

Leider herrscht auch in Frankreich keine Einigkeit der beiden linken Kandidaten, die erneut und unnötigerweise an der EU-Frage zerbrochen sind. Daneben wären jedoch unglaublich viele Gemeinsamkeiten beim ökologischen Umbau, der Rückverteilung von oben nach unten und dem Einsatz für ein europäisches Investitionsprogramm vorhanden gewesen. Gerade die Position von Mélenchon in Bezug auf die EU hätte eine Verhandlungsgrundlage für einen Kompromiss geboten: Solange die EU dazu gedrängt werden kann, im Interesse der Bevölkerung zu arbeiten, soll sie als Vehikel genutzt werden. Ansonsten müssen die geplanten Massnahmen schrittweise auch gegen die EU ergriffen werden.

Diese Position des “inside, but against the EU” wird neben Mélenchon auch vom Ökonomen und DiEm25-Mitbegründer Yanis Varoufakis vertreten. Interessanterweise unterstützt DiEm25 Benoit Hâmon. Damit haben wir ein weiteres Indiz, dass sich Hâmon und Mélenchon in Bezug auf die praktische Politik, die von ihnen zu erwarten gewesen wäre, kaum unterschieden hätten. Deshalb ist umso schmerzhafter, dass Mélenchon und Hâmon gemeinsam im ersten Wahlgang bis zu 25% Prozent der Stimmen erreichen dürften und sich damit durchaus vor Macron oder Marine Le Pen in den zweiten Wahlgang hätten retten können.

Mit einer Einigung auf eine konstruktiv EU-kritische Position hätten die beiden Kandidaten auch der europäischen Linken einen grossen Gefallen getan. Bestenfalls hätte ein linker Präsident in Frankreich bereits dafür sorgen können, mit genügend Druck die EU zu Eingeständnissen und sozialen Fortschritten zu bringen. Schlimmstenfalls hätte sich die EU erneut in beissend undemokratischer Manier gegen eine gewählte linke Regierung stellen müssen. Damit wäre es für linke EU-Gegner_innen auch massiv einfacher geworden, den EU- oder Euro-Austritt als Bedingung für progressive Politik darstellen zu können. So wäre die Europa-Debatte endlich von einem nationalistischen und reaktionären Diskurs zu einem über die Möglichkeit von sozialer Gerechtigkeit in der EU geworden.

Bleibt noch Emmanuel Macron. Dieser war und ist zwar niemals der Kandidat der Linken. Trotzdem sind viele seiner Positionen im europäischen Vergleich schlicht sozialdemokratischer Mainstream. In seinem Programm lassen sich sogar einige wenige Krümel progressiver Politik finden – ansonsten hat die Nähe aber eher mit den neoliberalen Positionen der europäischen Sozialdemokratie zu tun. Ein französischer Komiker stellte unlängst fest, dass selbst eine Waschmaschine mehr Programme hat als Emmanuel Macron. Nun hat es zwar auch er geschafft, seine Positionen zu Papier zu bringen. Für all diejenigen, die sich von ihm aber zumindest einen sanften 40-Grad-Waschgang für die gescheiterte europäische Wirtschaftspolitik erhoffen, bleibt Macron wohl eine lauwarme Enttäuschung.

Die französischen Wahlen zeigen damit eindrücklich, wie wichtig eine Einigung der Linken bleibt. Emmanuel Macron als Präsident wäre zwar (insbesondere nach Hollande) kein Untergang. Wie die meisten Sozialliberalen hat er aber ein Problem: Er ist so orientierungslos, dass ihn zwar alle links der Mitte wählen könnten. Für die Probleme einer Welt mit einer bröckelnden liberalen Wirtschaftsordnung und Menschen, die seit Beginn der Krise vor 10 Jahren auf einen Wandel hoffen, wird er aber kaum Lösungen haben.